Das hört und liest man jetzt allenthalben. Die von allen überregionalen Tages- und Wochenzeitungen beachtete und kommentierte Besetzung der Kulturamtsleiterstelle in Radebeul hat zweierlei deutlich gezeigt:
Der Wunsch oder auch die Notwendigkeit, dabei aufgetretene Fragen und Entscheidungen, politische Einstellungen und unterschiedliche Ansichten zu diskutieren und zu bewerten, ist deutschlandweit groß.
Entgegen mancher Behauptung zeigt unsere Presse ein vielfältiges Bild differenzierter Meinungen, widerspiegelt ein breites politisches Spektrum und ist alles andere als gleichgeschaltet.
Es hat sich bestätigt, dass in unserem Land jeder frei seine Meinung äußern kann. Aber er/sie muss auch damit leben können, dass die von ihm/ihr vertretenen Ansichten nicht von allen geteilt und möglicherweise sogar von einer Mehrheit für gänzlich falsch oder gar gefährlich gehalten und deshalb lautstark abgelehnt werden. Beides, die freie Meinungsäußerung, und der Protest gegen bestimmte Ansichten oder Handlungen, sind legitime Äußerungen unserer lebendigen Demokratie und kein Grund, sich beleidigt abzuwenden.
Wie aber weiter? Wie können wir dieses „sich von denen abwenden, die nicht die gleiche Meinung haben“, dieses jeweils nur in der eigenen Dunstglocke agieren, überwinden? Wie können wir miteinander im Gespräch bleiben, wechselseitig offen füreinander und ohne verletzende Vorverurteilung? Wie können wir „Zuhören“ einüben und aushalten?
Ich muss zugeben: Mir fällt das schwer, weil ich oft überhaupt nicht verstehe, wo Mensch bestimmte Meinungen bzw. Urteile herleitet.
Beispiele hierfür:
Bei manchen Demos skandieren die Leute „Lügenpresse, Lügenpresse!“. Wie kommen sie auf die Idee? Bei einem so breiten vorhandenen Spektrum von Zeitungen und Zeitschriften, in denen ein mindestens ebenso breites politisches Spektrum abgebildet wird, geht es doch gar nicht, dass alle lügen.
Oder die beschworene Gefahr einer gewollten Umvolkung oder einer Islamisierung des Abendlandes:
Insgesamt hatte Deutschland am 31.12.2020 83,17 Mio. Einwohner.
Lt. Statistik vom 16.06.2020 lebten am 31. Dezember 2019 in Deutschland 11.228.300 Ausländer aus insgesamt 199 verschiedenen Staaten, davon rund 2,5 Mio. Menschen aus der Türkei, Syrien, Irak und Afghanistan.
Der Ausländeranteil in Deutschland beträgt also ca. 13,5 %, das ist etwa 1/8 der Bevölkerung.
Lt. Statistik waren 2018 23,3 Mio. Menschen Angehörige der katholischen Kirche, 21,14 Menschen der evangelischen Kirche, 4,25 Mio. Muslime und 99.000 Mitglied einer jüdischen Gemeinde.
Der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung liegt demnach bei ca. 5,2 %. Daraus lässt sich doch wirklich keine Gefahr der Islamisierung ableiten!
Was also sind die Hintergründe für derartige Ängste, die sich in Demonstrationen, Ablehnung der amtierenden Politiker und Wahlentscheidungen niederschlagen und – neben der Religion Islam – auch gleich alle Muslime vorverurteilen?
Wieso gibt es Menschen, die nicht dankbar dafür sind, dass unserem Land schlimme Zustände aufgrund der Corona-Pantemi erspart blieben, sondern schimpfen und demonstrieren gegen die zu unserem Schutz beschlossenen Maßnahmen und im Vergleich zu anderen Ländern minimalen Einschränkungen? Sicher, auch ich fand einiges – zum Beispiel die strenge Isolation alter oder behinderter Menschen in Heimen – unwürdig, aber gleichzeitig war mir auch klar, dass ich auch unserer Regierung zugestehen muss, dass sie möglicherweise auf Neues, Unbekanntes, überreagiert, nicht immer optimale Lösungen findet und auch Fehler macht, aus denen wir alle lernen können.
Wieso rufen Menschen wie 1989 „Wir sind das Volk“, obwohl sie sehen können, dass sie nur eine Minderheit sind, und wieso empfinden sie die jetzige Situation mit all ihrer Freiheit und all ihren Entfaltungsmöglichkeiten als „fast wieder wie in der DDR“?
Welche Ursachen haben all der Frust, die Wut, die Unzufriedenheit?
Sind wir noch fähig, uns über all das auszutauschen, ohne je selbst „Recht haben“ zu müssen? Wird unser Verein das ermöglichen, aushalten, können?
In unserer Arbeitsgruppe Demokratie wünschen wir uns sehr, dass das gelingt, und wir suchen nach guten Dialogformen. Auch die Fraktion Bürgerforum/Grüne/SPD hat einen entsprechenden Antrag ins Stadtparlament eingebracht: https://buergerforum-gruene.de/antraege-anfragen/#Buergerdialoge
Und auch auf eine weitere Aktion unserer Fraktion sei hingewiesen. Diese entstand aufgrund unserer Diskussionen, wie wir die Demokratie stärken und den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit feierlich begehen können, nicht wir als Bürgerforum/Grüne, sondern wir, alle Bürger unserer Stadt gemeinsam, trotz z.T. differierender politischer Ansichten. Daraus entstand die Idee einer Baumpflanzaktion. Der konkrete Vorschlag ist, dass in einem feierlichen Akt am 3. Oktober 3 Bäume gepflanzt werden, die Einigkeit und Recht und Freiheit symbolisieren: https://buergerforum-gruene.de/antraege-anfragen/#Wiedervereinigung
Wir hoffen, dass unser Café Grünlich ein Ort der Begegnung wird und die Gespräche, die bisher zwischen uns und unseren „Kaffeegästen“ stattfanden, ein guter Anfang waren.
Für den Herbst 2020 planen wir weitere Veranstaltungen und Diskussionsrunden. Beginnen werden wir mit einer Buchlesung am 17. September 2020:
Lesung zum 100.Geburtstag von Hanns Cibulka, „Jedes Wort ein Flügelschlag“, es liest Jens Kuhbandner; es musiziert Benni Gerlach
Wir laden dazu schon jetzt herzlich ein. Wir hoffen, dass die Texte Cibulkas ein guter Einstieg für Diskussionen werden.
Barbara Thiel
